If we could see time
Während andere über KI-Superintelligenz diskutieren, denkt Sara Imari Walker viel radikaler: Was, wenn wir Leben völlig falsch verstehen? Die Physikerin hat eine verblüffende Antwort entwickelt, die unser Verständnis von Zeit, Komplexität und Existenz auf den Kopf stellt.
Sara Walker gehört zu den seltenen Wissenschaftlern, die es wagen, fundamentale Fragen neu zu stellen. Als Astrobiologin an der Arizona State University erforscht sie nicht nur, wie Leben entstanden ist – sie hinterfragt, was Leben überhaupt bedeutet.
Zeit als die vergessene Dimension
Things only look emergent because we can’t see time : dieser eine Satz ist das Ergebnis monatelanger Arbeit. Walker feilt oft wochen oder monate lang an der Formulierung eines einzigen Tweets. Komplexe Sachverhalte in möglichst wenigen Worten zu transportieren, hat sie als einen ganz besonderen Sport für sich entdeckt. Diese obsessive Präzision macht ihre Tweets oft zu einzigartigen, hochverdichteten Feststellungen.
Things only look emergent because we can’t see time.
Was wie ein philosophisches Rätsel klingt, ist der Schlüssel zu Walkers Assembly Theory. Diese könnte das sein, was die Physik schon lange sucht: eine Theorie, die erklärt, wie Komplexität aus dem Nichts entsteht und warum wir die Dimension Zeit nicht sehen können.
Walkers provokante Einsicht in dem kurzen Tweet: Wenn wir die Zeit sehen könnten wie den Raum, würden wir erkennen, dass scheinbar „emergente“ Phänomene in Wirklichkeit gigantische Objekte sind – nur eben nicht im Raum, sondern in der Zeit. Ein Mensch ist nicht nur 1,80 Meter groß, sondern trägt mit jedem einzelnen seiner Atome aus denen er besteht vier Milliarden Jahre Geschichte in sich.
The universe is far larger in time than it is in space.
The universe is far larger in time than it is in space ist eine weitere tiefgreifende Einsicht von Sara Walker. Wir sind nicht kleine, kurzlebige Wesen, sondern riesige Zeit-Kristalle, die sich über Äonen erstrecken. Jedes Objekt um uns herum – vom Smartphone bis zur DNA – ist eine hochverdichtete Konstruktionsgeschichte des Universums.
Das 15-Stufen-Gesetz des Lebens
Sara Walker hat zusammen mit Lee Cronin experimentell eine faszinierende Grenze entdeckt: Komplexe organische Moleküle mit mehr als 15 Konstruktionsschritten entstehen in der Natur offenbar nur durch evolutionäre Prozesse, nicht durch zufällige chemische Reaktionen. Das scheint die erste messbare Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben zu sein.
Assembly theory is about construction and how the universe selects for things to exist.
Der Assembly Index misst, wie viele rekursive Schritte nötig sind, um ein Objekt zu konstruieren. Ein Wassermolekül hat einen niedrigen Index, DNA einen hohen. Aber erst ab Index 15 beginnt das Reich des Lebens – nicht weil Leben chemisch anders wäre, sondern weil es der einzige Prozess ist, der so komplexe Strukturen in großer Anzahl hervorbringen kann.
Diese Erkenntnis ist revolutionär: Leben ist nicht durch seine Bestandteile definiert, sondern durch seine Konstruktionsgeschichte. Jedes lebende Objekt trägt die gesamte Kausalkette seiner Entstehung in sich.
Das Alien-Paradox
Die verstörendste Konsequenz ihrer Theorie: Vielleicht sind wir auf unsere Art allein im Universum – nicht weil Leben selten ist, sondern weil hochentwickelte Zivilisationen unsichtbar werden.
Sara Walker spekuliert über einen Great Perceptual Filter: Je komplexer ein System wird, desto mehr virtualisiert es sich. Es wird größer in der Zeit, aber verschwindet aus dem Raum. Hochentwickelte Aliens könnten so tief in ihre eigenen zeitlichen Strukturen eingetaucht sein, dass sie für uns unerkennbar werden.
Maybe black holes are just civilizations that have virtualized themselves completely.
Eine beunruhigende Möglichkeit: Das Universum könnte voller intelligenter Zivilisationen sein – wir können sie nur nicht erkennen, weil sie längst zu reinen Zeit-Strukturen evolviert sind. Was wir für leeren Raum halten, könnte in Wirklichkeit von virtualisiertem Leben wimmeln.
Assembly Theory zeigt uns: Das Universum ist kein mechanisches System, sondern ein kreativer, sich selbst konstruierender Prozess. Die größten Rätsel lösen wir nicht durch Zerlegung in Teile, sondern indem wir lernen, die Zeit zu sehen.
Vielleicht stehen wir gerade an genau diesem Punkt: Während wir diskutieren, ob KI uns ersetzen wird, sind wir möglicherweise bereits dabei, uns selbst zu virtualisieren – genau wie jene unsichtbaren Alien-Zivilisationen, die Sara Walker beschreibt.
Wenn Menschen wirklich vierdimensionale Zeit-Kristalle sind, dann ist Longevity-Forschung keine Eitelkeit, sondern der logische nächste Schritt unserer Evolution. Wir versuchen instinktiv, größer in der Zeit zu werden – unsere temporale Ausdehnung zu maximieren. Was wir für den Kampf gegen das Altern halten, könnte in Wirklichkeit der Beginn unserer Transformation zu den zeitlichen Giganten sein, die Sara Walker skizziert.
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entresol.de: Living Loops – Wann entsteht aus Rekursion Bewusstsein?
lexfridman.com: Lex Fridman Podcast #433: Sara Walker
goodreads.com: Life as No One Knows It – The Physics of Life’s Emergence
nature.com: Assembly theory explains and quantifies selection and evolution (Nature)
twitter.com: Sara Walker auf X
emergence.asu.edu: ASU Beyond Center for Fundamental Concepts in Science
lexfridman.com: Alien Debate – Sara Walker and Lee Cronin (Lex Fridman #279)